Cadentia minor

Dieser Kadenztypus wird in der modernen Harmonielehre je nach Kontext verschieden interpretiert und bezeichnet. Häufig ist zu lesen, mit dem historischen Begriff Cadentia minor sei die sogenannte „plagale Kadenz“ gemeint, die per Quartfall von der vierten in die erste Tonleiterstufe vollzogen wird. Die meisten Beispiele, die Muffat für diesen Kadenztypus gibt, würden man hingegen heutzutage als „Halbschluss“ klassifizieren.

Interessanterweise handelt sich es zudem meistenteils um Kadenzen nach G oder A, während Muffat die major-Kadenzen in der Regel nach C oder d führt. Dies könnte ein weiteres Argument für eine halbschlüssige Interpretation darstellen. Tatsächlich diskutiert Muffat die syntaktische Qualität der Kadenzen jedoch allein anhand ihrer satztechnischen Anlage, woraus die Hierarchie major/minor/minima erwächst. Und noch Rameau weist im Traité darauf hin, dass die Quartfall-Kadenz, die bei ihm cadence irréguliere heißt, sowohl von der vierten zu ersten als auch von der ersten zur fünften Stufe fortschreiten kann.

Der Begriff Halbschluss suggeriert, dass die Kadenz nur zur Hälfte vollzogen wird, die Phrase also auf der Penultima stehen bleibt. Diese Situation ist dem 17. Jahrhundert durchaus bekannt. So schreibt etwa Conradus Matthaei „Imperfectae Clausulae sind: welche entweder in der penultima stehen bleiben“ und gibt folgende Beispiele, welche satztechnisch tatsächlich einer Cadentia minor entsprechen:


(Conradus Matthaei, Kurtzer, doch ausführlicher Bericht von den Modis Musicis, 1652, S. 8)


Auch Johann Gottfried Walther erwähnt im Musicalischen Lexicon den Typus der Cadence imparfaite, welcher deshalb unvollkommen heißt, weil er auf der Quinte schließt und „der sonst drauf folgende Clavis, als die rechte Schluß-Note, erwartet und desiderirt wird“.1 Charles Masson, auf den sich auch Rameau bezieht, nennt hingegen die Quartfallkadenz deswegen imperfekt, da die Oberstimme nicht auf dem gleichen Ton wie der Bass schließt.2

Dies führt uns zu ihrem Ursprung, der mi-Kadenz. Dieser wird auch deutlich, wenn man sich Muffats Standard-Bezifferung der ligata-Kadenz anschaut (9-8), die auch bei der mi-Kadenz mit Bassklausel zustande kommt. Wir haben bereits gesehen, dass bei der mi-Kadenz die Verhältnisse sozusagen auf dem Kopf stehen. Die Tenorklausel besitzt den „leitenden“ Halbtonschritt. Bei der barocken Cadentia minor schreitet zudem die in diesem Fall freiere Sopranklausel in entgegengesetzte Richtung abwärts in die Terz des Schlussklangs, die bei der Cadentia major aus der entgegengesetzt aufwärts schreitenden Tenorklausel hervorgeht:

Man kann also festhalten, dass die Quartfallkadenz zwei Phänomene vereint: Als imperfekte Kadenz (nach Walther und Matthaei) kann sie als Vorbereitung einer Quintfallkadenz erscheinen, die sodann nicht erklingt. Besonders charakteristisch ist der Quart- oder Quartsextvorhalt auf dem Schlussklang, den Johann Baptist Samber als allgemeines Kennzeichen der Cadentia minor erwähnt (Johann Baptist Samber, Manuductio ad organum: Cum contiunatione, 1704, S. 155).

[NB: Die Verschachtelung einer vorausgehenden mi-Kadenz mit einer darauffolgenden authentischen Kadenz ist bereits im Renaissance-Kontrapunkt üblich, weshalb der mi-Kadenz schon früh das Potenzial innewohnt, als erste Hälfte eines Kadenzkomplexes wahrgenommen zu werden. Desweiteren hat die mi-Kadenz außerhalb des phrygischen Modus ihren traditionellen Ort auf der Quinte des dorischen (clausula secundaria, cadenza confinale) oder sogar der Terz (clausula tertiaria) des lydischen und besitzt auch in diesem Sinne „Öffnungspotenzial“.]

Darüber hinaus kann die Quartfallkadenz aber auch als vollwertige Kadenz erscheinen. In diesem Fall besitzt sie satztechnisch eine geringere Qualität, da der Außenstimmensatz in der Quinte oder Terz schließt und außerdem die perfecta-Form, die der Cadentia major den höchsten Grad an Vollkommenheit verleiht, nicht existiert. Dennoch ist sie im Sinne der varietas von nicht zu unterschätzender Bedeutung vor allem für die deutsche und französische Barockmusik. „It not only lends a charming diversity to harmony and helps to produce graceful melodies, but is also a great resource for pieces in four or more parts. As a result, we can only praise those who first attempted to use it“ schreibt Rameau über die Kadenz.3
Charakteristisch für einen vollwertigen, im modernen Sinne „plagalen“ Schluss sind die durchgehende Sixte ajouteé (Rameau) und die durchgehende übermäßige Quarte. Letztere empfiehlt Muffat vor allem im vier- oder mehrstimmigen Satz.
Ferner existiert eine größere Form, die immerhin die doppia-Tenorklausel (als mi-Klausel) beinhaltet. Ob man sie tatsächlich – in Analogie zur Cadentia major perfecta – als eine Art perfekte mi-Kadenz bezeichnen möchte, sei dahingestellt.


So seltsam es uns zunächst anmutet, dass zwei aus der Perspektive der Harmonielehre so unterschiedliche Phänomene unter einem Begriff zusammengefasst werden, so vergröbernd ist für die Barockmusik eine Perspektive, die sämtliche Kadenzen in die fünfte Stufe unbeachtet ihrer satztechnischen Qualität unter dem Begriff Halbschluss vereint. Eine differenzierte Betrachtungsweise weiß zwischen beiden Ebenen zu unterscheiden: Die Begriffe Halbschluss und Cadentia minor besitzen zwar eine gemeinsame Schnittmenge, sind aber nicht deckungsgleich. Ein Halbschluss kann in Form einer Cadentia minima oder sogar als syntaktischer Einschnitt ohne eigentliche Kadenz auftreten, während eine Cadentia minor auch auf der ersten Stufe der Tonart vollkommen schließen kann.



1Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon, 1732, S. 125
2Charles Masson, Nouveau traité des regles pour la composition de la musique, 1705, S. 50 u. 52
3In der englischen Übersetzung zit. n. Jean-Philippe Rameau: Treatise on Harmony, translated, with an introduction and notes, by Philip Gosset, New York 1971, S. 73f.