Die Omnipräsenz der Kadenz

Kadenzen sind in der hoch- und spätbarocken Musik zu mehr als nur Gliederungspunkten geworden. Sie durchsetzen letztlich den kompletten Satz und bestimmen die Klangfortschreitung, was letztlich zu einem Klangeindruck führt, den wir heutzutage als „tonal“ bzw. „funktionsharmonisch“ bezeichnen.
Wie Ludwig Holtmeier zeigen konnte1, ist die Oktavregel, die wesentlichen Klangfortschreitungen jenseits von Sequenzmodellen zusammenfasst, letztlich auf eine Verschachtelung von Kadenzmodellen zurückführbar.

Die Omnipräsenz der Kadenzen haben bereits die Zeitgenossen erkannt. So schreibt Andreas Werckmeister in seiner Harmonologia Musica in Bezug auf ein kurzes Notenbeispiel:

„Diese sind nun wie man sieht fast lauter Formal clausulen [Kadenzen]/ bald Discantisierende, bald Tenosirende/ und Bassirende/da die dissonantien resolviret werden: Es sind aber diese so vielfältig daß es verdrüßlich seyn würde dieselben in gewiße Regeln zubringen/ denn Sie werden heutigen Tages/ auf sehr vielerley Arthen angebracht und wird noch immer was neues hierinnen erfunden/ darum weise ich den Music-Beflissenen in die guten Autores, alwo sich der Usus wohl finden wird/ wer sonst Naturalia hat: Wer aber die nicht hat dem werden auch 1000. Regeln nicht helffen.“
(Andreas Werckmeister, Harmonologia Musica, 1702, S. 51 §90)

Einen guten Eindruck von der Vielfalt barocker Kadenzen vermag vielleicht folgendes Beispiel einer Analyse einer Händel‘schen Courante geben. Betrachtet man die Stufen 3, 4 und 6 vor einer Kadenz als deren Vorbereitung (preparement), ist der komplette Satz erfasst. Gut zu erkennen ist die formale Strategie, wie Händel sich jeweils mit Kadenzen graduell zunehmender Stärke dem Kadenzziel (Tonart der Quinte (V) am Ende des ersten Formteils, Tonart der Sexte (VI) in der Mitte des zweiten und Ausgangstonart (I) zum Schluss) annähert. Der spektakulärste Moment ereignet sich wohl, wenn Händel die lange angesteuerte, große doppia-Kadenz in die Tonart der Sexte flieht und statt die Ultima durch einen Septakkord auf der sechsten Stufe ersetzt. Aufgrund des Style brisé und der beliebten Technik der cadenza diminuiti (Gasparini) sind die Kadenzenmodelle mitunter nicht immer leicht zu erkennen.

Aus pragmatischen Gründen bin ich eklektisch vorgegangen und habe die Begriffe der deutschen und italienischen Theorie gemischt. Die italienischen Begriffe wie composta- und doppia-Kadenz haben sich in der heutigen Musiktheorie bereits eingebürgert, die lateinischen Begriffe Muffats klingen vergleichsweise mühsam. Allerdings existiert nicht für alle Begriffe Muffats ein italienisches Äquivalent: die Cadentia minor findet man in der italienischen Theorie ebensowenig wie in einem Großteil der italienischen Barockmusik. Leider ist der heutige Musiktheoretiker darauf angewiesen, sich von unterschiedlichen, selten auf Vollständigkeit bedachten Darstellungen barocker Autoren inspirieren zu lassen, um letztlich die für ihn die Phänomene am besten erfassenden und gleichzeitig am pragmatischsten zu handhabenden Begriffe auszuwählen und damit zu hantieren.



(aus: G. F. Händel, Suite HWV 426, III. Courante)



1 Ludwig Holtmeier, »Zum Tonalitätsbegriff der Oktavregel«, in: Systeme der Musiktheorie, hg. von Clemens Kühn und John Leigh, Dresden, 2008