Kadenzen in der Klassik
Schon mit Johann Mattheson (1681–1764) bahnt sich eine ganz neue Interpunktionslehre an, die in den großen Lehrwerken von Joseph Riepel (1709–1782) und Heinrich Christoph Koch (1749–1618) zur vollen Entfaltung gelangt. Ihre Schriften dokumentieren einen kaum zu überschätzenden Paradigmenwechsel, der die Melodie auf ganz neue Weise in den Mittelpunkt rückt. Pointiert ließe sich sagen, dass der Bass, der im Barock den Tenor als „sinntragende“ Hauptstimme abgelöst hatte, nun (innerhalb der sogenannten „freien Schreibart“) in ebenso bahnbrechender Weise seine Führungsrolle an die Melodie wieder abgibt. Die Melodie wird als „Ausdruck der Empfindung“ zum „Wesentlichen jedes Tonstücks“ (Koch) und von ihr aus muss alles gelesen werden. Dies zeigt sich allein schon darin, dass die genannten Autoren (insbesondere Riepel und Koch) fast sämtliche Phänomene anhand der Melodie erklären und in ihren Notenbeispielen auf die vormals so wichtige Bassstimme überwiegend gänzlich verzichten.Zuweilen wurde diese Eigenart als Unzulänglichkeit der Traktate aufgefasst. Der Gedanke liegt nahe, sie seien an Liebhaber gerichtet, die zum Lesen des Bassschlüssels sowie komplizierterer mehrstimmiger Zusammenhänge nicht fähig waren. Das Gegenteil ist der Fall: Koch betrachtete die "Bekanntschaft mit der Harmonie" als wesentliche Voraussetzung für die Einrichtung der Melodie, die demgemäß am Anfang der Ausbildung zu stehen hatte. Die alte Generalbasslehre blieb das unabdingbare Fundament.
"Die Melodie muß auch so beschaffen seyn, daß sie einer mannigfaltig abwechselnden und der Beschaffenheit ihres Ausdruckes angemessenen Harmonie fähig ist. Diese nothwendige Eigenschaft der Melodie hängt von nichts weniger, als von einem blinden Zufalle ab, sondern setzt Bekanntschaft mit der Harmonie und hinlängliche Uebung in derselben voraus. Daher ist man auch genöthigt, den Anfang zur Erlernung der Komposition mit dem harmonischen Theile derselben zu machen" (Heinrich Christoph Koch, Musicalisches Lexicon, Eintrag "Melodie").
Dass auch für die großen Komponisten wie J. Haydn und W. A. Mozart die Melodie "den eigentlichen Umriß des Tongemäldes" enthielt (Koch), lässt sich nicht zuletzt aus ihren zahlreichen Skizzen ersehen, in denen häufig über weite Strecken nur die Melodiestimme festgehalten ist. Melodie ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Oberstimme: Die Melodie („Hauptstimme“) kann, etwa in „gelehrten“ Passagen, durch die verschiedenen Stimmen wandern („durchbrochene Arbeit“).
Für die Kadenzlehre hat diese Verschiebung der Perspektive weitreichende Folgen: Nicht nur die Terminologie ändert sich (die Klausellehre wird im Grunde vollständig über Bord geworfen); es entsteht ein vollkommen neues Kategoriensystem, zu dem weder in der früheren noch in der modernen Theorie eine Entsprechung (jenseits zufälliger Überschneidungen) existiert.
Melodische Interpunktion
Die auf Klauseln und Generalbassmodellen fußende barocke Kadenzlehre wird durch eine neue, melodische Interpunktionslehre abgelöst, die auf differenzierteste und systematischste Weise Heinrich Christoph Koch ausformuliert. Koch unterscheidet zwischen drei verschiedenen Abstufungen melodischer Ruhepunkte („Ruhepuncte des Geistes“): Einschnitt, Absatz und Kadenz. Koch versteht sie in direkter Analogie zu den Satzzeichen in der Rede:„[…] so schließt z.B. der Punct den Perioden der Rede wie die Cadenz den Perioden der Melodie, und der Absatz und Einschnitt unterscheidet die melodischen Theile des Perioden eben so, wie das Semicolon und Komma die kleinern Theile des Perioden der Rede“ (Heinrich Christoph Koch, Versuch einer Anleitung zur Komposition, Bd. 2, § 125).
Seine Lehre ist dementsprechend eine Lehre vom musikalischen Satzbau.
Die Kadenz ist der vollkommenste „Ruhepunkt des Geistes“ und beendet einen aus einem oder (meist) mehreren Sätzen bestehenden größeren Zusammenhang, den Koch „Periode“ nennt. Wesentlich für eine Kadenz ist, dass die Melodie den Grundton der Tonart erreicht, und zwar in der Regel auf dem schweren Taktteil. Riepel unterscheidet „unvollkommene“ Terzkadenzen und „vollkommene“ Quintkadenzen. Nach älterer Terminologie würde man im ersteren Fall von einer Sopranklausel, im zweiten Fall von einer Tenorklausel in der Oberstimme sprechen. Letztere gilt offenbar als die schlusskräftigere, Riepel räumt aber sogleich ein, dass Terzkadenzen je nach Kontext für ebenso vollkommen gelten können.
(Joseph Riepel, Anfangsgründe zur musicalischen Setzkunst: Von der Tactordnung, 1754, S. 14)
Üblicherweise macht der Bass einen Quintfall 5–1, allerdings sind auch Unisono-Kadenzen möglich, bei denen sich auch der Bass stufenweise bewegt (Bsp.: Haydn, Sonate in G Hob. XVI:27, T. 12).