Drei Préludes für das Clavemusicum Omnitonum: Eine kleine Einführung

Dieser Text ist eine kleine Einführung in das Tonsystem der Drei Préludes für das Clavemusicum Omnitonum, die man sich auf dem Youtube-Kanal von Studio31 anhören kann. Ich werde zunächst etwas weiter ausholen und anhand eines kanonisierten Beispiels veranschaulichen, wie integral das Stimmungssystem für die jeweilige Musik ist.

Intervall- und Ausdrucksreichtum der Mitteltönigkeit

Sämtliche Intervalle, die in der ubiquitären, heutzutage den meisten geradezu naturgegebenen erscheinenden gleichstufigen „12-EDO“ Stimmung enharmonisch verwechselbar sind, klingen in mitteltöniger Stimmung unterschiedlich: ein Tritonus kleiner als eine verminderte Quinte, eine übermäßige Sekunde kleiner als eine kleine Terz, eine verminderte Quarte größer als eine große Terz etc. – der Unterschied ist indes nicht nur ein quantitativer, sondern ein qualitativer. Der Reiz der akustisch reinen Konsonanzen wie etwa der großen Terz ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Je reiner nämlich andererseits auch die dissonanten Intervalle klingen, desto stärker entfalten sie ihre expressive Kraft – sie wirken dann gleichsam „scharfgestellt“. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der verminderten Quarte demonstrieren.


Als isoliertes Intervall fällt dem Ohr die Einordnung schwer: eine Auffassung als zu große, also verstimmte große Terz drängt sich auf, da das einigermaßen komplexe „Sekundär“-Intervall (Differenz von kleiner Sexte 8:5 und großer Terz 5:4 = 32:25) nicht vermittelt ist (vgl. Bsp. oben). Wird es jedoch durch den musikalischen Kontext als verminderte Quarte spezifiziert, erscheint es plötzlich zum einen absolut stimmig und zum zweiten ungeheuer expressiv. In seiner Toccata in d verwendet J. J. Froberger die verminderte Quarte programmatisch und exponiert sie mit ihrer ganzen expressiven Wucht, geradezu schreiend, gleich zu Beginn; in der von ihm vorausgesetzten mitteltönigen Stimmung ist sie neben der großen Terz (und jeweils den Komplementärintervallen übermäßige Quint bzw. kleine Sexte) und natürlich der Oktave das einzige rein gestimmte, „scharfgestellte“ Intervall.


Gleichstufig Mitteltönig

Am Ende des ersten Formteils kehrt die verminderte Quarte, nun mehr resignierend oder klagend als schreiend, in ihrem typischen Kontext einer cadenza doppia wieder und bildet so einen affektiven und narrativen Rahmen. (Man beachte auch die in der Mitteltönigkeit engeren und sehr viel expressiveren, gleichsam beklemmenden chromatischen Schritte g–gis sowie b-h.)


Gleichstufig Mitteltönig

Die charakteristische Expressivität dieses ausgesprochen dissonanten Intervalls schwindet enorm, wenn man das Intervall so temperiert, dass es mit der großen Terz in eins fällt; wir erleben es nur noch unscharf und fahl, gleichsam als entkörperlichte Idee. Der Akkord ergraut, denn die beiden Intervalle, die übereinandergeschichtet sind, haben sich einander akustisch vollkommen angeglichen.


Die sich im 18. Jahrhundert allgemein durchsetzende wohltemperierte und letztlich gleichstufige Stimmung hat die Musik in kaum zu überschätzendem Maße revolutioniert. Die ihrerseits wiederum expressives Potenzial freisetzenden Möglichkeiten der enharmonischen Verwechslung und der unbegrenzten, zirkulären Modulation hat man sich mit der Preisgabe des sehr ursprünglichen expressiven Potenzials jener Vielfalt „scharfgestellter“ Intervalle erkauft. Letzteres war damit über drei Jahrhunderte hinweg nahezu in Vergessenheit geraten.

Die septimale Enharmonik der 31-mitteltönigen Temperatur

Das 31-mitteltönige, septimale Tonsystem könnte man nun gleichsam als dialektische Synthese dieser unterschiedlichen (bis dato getrennten) expressiven musikalischen Optionen begreifen. Interessanterweise ist nämlich etwa die besprochene reine verminderte Quarte nahezu identisch mit der septimalen Großterz 9:7 (dem Differenzintervall von großer None und Naturseptime). Die mitteltönige Temperatur nivelliert diesen Unterschied.


Das Intervall kann daher etwa horizontal-melodisch als verminderte Quart und gleichzeitig (enharmonisch verwechselt) vertikal-harmonisch als (temperierte) septimale Großterz 9:7 verwendet werden. So geschieht es demonstrativ im ersten Akkord meines zweiten Préludes:



His (enharmonisch verwechselt ein septimales c über d) – e ist zum einen als 9:7-Terz Teil des Septnonakkords, zum anderen horizontal-melodisch eine verminderte Quart. Die Qualität der letzteren wird verstärkt durch den dem Akkord beigefügten Tritonus gis, der als zweites Moment (zusätzlich zu den melodischen Fülltönen cis und dis) den musikalischen Kontext für die verminderte Quarte bereitstellt.

Der gezähmte Wolf (Prélude I)

In der (1/4-Komma-)mitteltönigen Temperatur entsteht auf der traditionellen, 12-stufigen Klaviatur an der „Nahtstelle“ des (vermeintlichen) Quintenzirkels der sogenannte Wolf: das Intervall gis - es ist musikalisch unbrauchbar, da es den Toleranzbereich der Quinte überstrapaziert – gegenüber der reinen Quinte ist es um 36 Cent (fast ein „Viertelton“) zu groß.

Der „Wolf“ kann jedoch auch septimal aufgefasst werden, nämlich als septimale Quinte oder – komplementär – Quarte 21:16. Diese ist das Differenzintervall von der Naturseptime 7:4 und der reinen Quarte 4:3.



Besonders einleuchtend und musikalisch sinnfällig darstellbar ist dies anhand des Akkords mit Quarte und kleiner Septime – ein Markenzeichen französischer Barockmusik (Bsp. unten, a). Wenn man die diatonische durch eine reine Septime substituiert, hat sich der Wolf unwiederbringlich eingeschlichen. Entweder, man belässt die Quarte zum Basston rein, dann ergibt sich der Wolf als Sekundärintervall zwischen den Oberstimmen (b) – oder, man „bereinigt“ den Wolf und intoniert die Quarte rein zur Septime (c); damit wechselt der Wolf jedoch nur seinen Ort und findet sich nun im unteren Intervall wieder. In beiden Fällen kann der Wolf leicht als septimales Intervall 21:16 aufgefasst werden; er erscheint durch den Basston vermittelt und entsprechend musikalisch sinnfällig eingebunden. Durch melodische Integration kann der Wolf sogar noch weiter gezähmt werden (d):


(Die Hörbeispiele zeigen die jeweiligen Klänge zunächst isoliert, dann kontextualisiert.)

Am Anfang meines ersten Préludes, das sich dem Wolf annimmt, bereite ich die Wolfsquarte sogar vor und treibe so die Zähmung noch weiter: der Wolf ist zum Haustier geworden.



Entlegene Intervalle (Prélude III)

Bis dato habe ich von sogenannten diatonischen und chromatischen Intervallen gesprochen, die alle aus der traditionellen tonalen Musik vertraut sind – wenn auch, wie wir gesehen haben, durch die gleichstufige Temperatur weichgezeichnet.
Die antike Musiklehre und die daran anknüpfende Musiktheorie der Renaissance kannte eine dritte Kategorie, nämlich die Intervalle des enharmonischen Genus. Damit ist nicht die Enharmonik im (modernen) Sinne der enharmonischen Verwechslung gemeint, sondern die Teilung der Quarte solcherart, dass Kleinstintervalle entstehen, die etwa dem modernen „Viertelton“ entsprechen. Manche Theoretiker wie Archytas bestimmten diese Intervalle präzise als Proportionen, Archytas tatsächlich sogar septimal: den Halbton zwischen Großterz 5:4 und Quarte 4:3 teilt er in die septimalen Intervalle 36:35 und 28:27. 36:35 entspricht der Differenz von 9:7 und 5:4, also in der 31-mitteltönigen Temperatur dem kleinsten Tonschritt, enharmonisch verwechselt der verminderten Sekunde (z. B. hisc). 28:27 entspricht der Differenz von 7:6 und 9:8, also in der 31-mitteltönigen Temperatur dem chromatischen Halbton 25:24.


Mitteltönig Rein

All diese und weitere Intervalle können in der 31-mitteltönigen Temperatur durch die Möglichkeit der enharmonischen Verwechslung in doppelter Funktion verwendet werden. In meinem dritten Prélude verwende ich bevorzugt auch entlegenere Sekundärintervalle wie die doppelt verminderte Quarte, die septimal als Differenz von reiner Septime und verminderte Quinte respektive kleiner None und reiner Septime kontextualisiert werden kann:



Diese Intervalle kommen in der traditionellen modalen und tonalen Musik nicht vor und können als enharmonische Intervalle bezeichnet werden, die zu den vertrauten diatonischen und chromatischen hinzutreten und eine durchaus fremd anmutende, gleichsam mystische Qualität aufweisen. In der im dritten Prélude mehrfach wiederkehrenden, charakteristischen Fortschreitung (oder vielmehr Verfärbung) eines Akkords mit kleiner None verschiebt sich der Ort des erwähnten enharmonischen Intervalls, das im weiteren Verlauf des Stücks in verschiedenen Kontexten wiederkehrt – etwa als äquidistante Teilung der Quinte, mithin ein Akkord mit „neutraler Terz“ (vgl. Bsp. oben; wegen der verkleinerten temperierten Quinte sind die beiden Intervalle 216:175 und 175:144 genau gleich groß).


Schlusswort

Theoretische Erläuterungen wie diese können helfen, die Aufmerksamkeit beim Hören zu fokussieren; das Schöne an der hier demonstrierten septimalen „Hypertonalität“ aber ist, dass sie sich dem offenen Ohr auch unmittelbar sinnlich mitteilt. Sie besitzt einen außerordentlichen Reichtum an Intervallqualitäten, die sich zwar in Proportionen ausdrücken lassen; diese sind jedoch keine abstrakten Zahlenverhältnisse, die mehr auf dem Papier als in der Wahrnehmung existieren (wie tendenziell in der seriellen Musik), sondern unmittelbar sinnlich erfahrbare qualitative Differenzen.