Die vierte und fünfte Stimme

Mit der Hinzunahme einer vierten Stimme werden alle Stimmen in ihrer Lage fixiert: Der Contratenor wird aufgeteilt in einen altus oberhalb sowie einen bassus unterhalb des Tenors. Der berühmte Musiktheoretiker Gioseffo Zarlino (1517–1590) verglich die vier Stimmen nach antiker Manier mit den vier Elementen: Der Cantus sei das Feuer, der Tenor das Wasser. Dazwischen befindet sich die Luft (Altus) und unterhalb die Erde (Bassus). Der Vergleich mag uns heute abwegig erscheinen, tatsächlich jedoch besitzt in der Renaissancemusik jede der vier Stimmen ihren eigenen Charakter, verbunden mit ihrer konkreten strukturellen Rolle. Und wenn wir das Verhalten der vier Stimmen innerhalb der Kadenz betrachten, erscheinen diese Bilder erstaunlich treffend: Der Sopran besitzt den energiegeladenen Leitton, der – beweglich wie das Feuer – auch am häufigsten durch virtuose Rhythmen diminuiert wird. Der Tenor wirkt darauf bezogen als – fließend wie das Wasser – sekundweise abwärts führende Gegenkraft, während der Bass, weniger melodischer bzw. belebter Natur, das schwere Fundament bildet. Der Alt schließlich wirkt, als letzte hinzutretende Stimme und strukturell auf den Bass bezogen (vgl. die Klangaufbaulehren des 16. Jahrhunderts, etwa von Pietro Aron), als unscheinbare, gleichsam schwerelose Füllstimme. Sie schmiegt sich dem Verlauf des Basses an, wenn sich dieser ändert (Nbsp. 2), wie die Luft, die den Erhebungen der Erde weicht.

Indem der Satz im 16. Jahrhundert vollstimmiger wird, emanzipiert sich auch die Terz, trotz ihrer imperfekt konsonanten Qualität als Intervall im Schlussklang. Es entstehen zwei Altklauseln, und für den idealen Klangaufbau muss eigentlich eine fünfte Stimme hinzutreten. Tatsächlich muss wohl der fünfstimmige Satz als der „eigentliche“ des späteren 16. Jahrhunderts angesehen werden.