mi-Kadenz
Eine Kadenz ist in der Renaissance grundsätzlich auf jeder Stufe möglich (ausgenommen in der Regel h, da sich darüber natürlicherweise keine perfekte Quinte befindet), wobei die wichtigen Stufen des jeweiligen Modus bevorzugt werden. Wenn man sich die jeweilige Situation auf den verbleibenden sechs Stufen anschaut, fällt auf, dass nur auf den Stufen f , e und c die „der Schönheit wegen“ benötigte große Sexte von selbst zustande kommt – auf den übrigen Stufen muss einer der Töne künstlich erhöht oder erniedrigt werden, wobei das Tonsystem über die Unter- und Obergrenze es bzw. gis selten hinausgeht. (Ein as entspräche dem gis und beide Töne lassen sich auf einem nicht gleichstufig gestimmten Tasteninstrument mit etwa zwölf pro Oktave nicht gleichzeitig verwirklichen!)Ferner fällt auf, dass sich bei der Kadenz nach e der Halbtonschritt nicht wie gewohnt in der Sopranklausel, sondern in der Tenorklausel befindet. Diese Kadenz ist daher ein Sonderfall und wird mi-Kadenz genannt. Ein Halbtonschritt abwärts wird in der Renaissance-Solmisation übrigens in der Regel immer als fa-mi solmisiert, der Begriff ist also nicht der auf die absolute Tonhöhe e vorbehalten.
Ein Problem entsteht, wenn man dieser Kadenz die gewohnte Bassklausel (Quintfall) unterlegen will, denn zwischen Bass und Tenor kommt dann eine verminderte Quinte zustande, die nicht toleriert wird. Der übliche Weg, das verbotene Intervall zu beseitigen, wäre, das h zum b zu erniedrigen. Doch damit hätte sich das Problem nur verschoben: Die verminderte Quinte entsteht dann als horizontales Intervall innerhalb der Bassstimme (b-e). Aus diesem Grund wird die mi-Kadenz gesondert behandelt. Der Bass vollzieht einen Quartfall, der allerdings nicht in die Finalis (den Grundton der Tonart) mündet. Dies mag zunächst irritieren, doch für die Renaissance-Theorie ist in erster Linie wichtig, dass die beiden wichtigsten Klauseln (Tenor und Cantus) mit ihrer Fortschreitung von imperfekt zu perfekt erhalten bleiben. Dies zeigt einmal mehr, dass es sich bei der Bassklausel ursprünglich bloß um eine Ergänzungsstimme handelt.
In späterer, dur-moll-tonaler Musik tritt diese Kadenz fast nur noch als Schrittkadenz (mit Tenorklausel im Bass) auf. Da es dann keinen phrygischen Modus mit Halbtonschritt oberhalb der Finalis mehr gibt, handelt es sich dann immer um einen Halbschluss in Moll, von der sechsten Tonleiterstufe zur fünften – und wird daher auch „phrygischer Halbschluss“ genannt.