Was ist eigentlich eine Kadenz?

Mit dem Begriff Kadenz bezeichnen wir den Moment einer musikalischen Phrase, wenn sie zu einem Ruhepunkt gelangt, vergleichbar dem Satzzeichen in der geschriebenen Sprache. Tatsächlich sind es Begriffe der Interpunktion, welche im frühen Mittelalter zu den allerersten zählen, um Musik analytisch zu beschrieben.

Mit dem Aufkommen der Mehrstimmigkeit, zunächst mit dem Stimmpaar Cantus – Tenor, entsteht die Möglichkeit einer zu deren technischer Realisierung notwendigen Abstufung (Fortschritt – Ruhepunkt) durch den Gebrauch qualitativ unterschiedlicher Intervallklassen:

Höchste Spannung
Dissonanz
Mittlere Spannung
Imperfekte Konsonanz
Ruhe
Perfekte Konsonanz
Sekunde
Septime
Terz
Sexte
Quinte
Oktave


Wie wir sehen, eignen sich für jeden Spannungsgrad zwei Intervalle, wobei es sich bei den gespannten Intervallen jeweils um Komplementärintervalle handelt. Für dieses Schema gibt es genau ein Stammintervall zu viel: die Quarte. Diese erfährt seit jeher eine Sonderstellung und wird später gesondert diskutiert.

Mit dem Begriff des Kontrapunkts wird ein Ideal erkennbar, das ab der Renaissance die gesamte Musik beherrschen soll: Der „Note gegen Note“-Satz, auf den jede ausgeschmückte Musik jederzeit rückführbar sein muss, um als „korrekt“ zu gelten. Dabei erklingen die Stimmen in rhythmisch identischen Werten, sodass die einzelnen Töne (ortographisch: Punkte) jederzeit gegeneinander (contra) treffen.

Wenn nun der Begriff der Kadenz den Akt des Zuruhekommens bezeichnet, so äußert sich dieser also technisch in der Fortschreitung von einem gespannten (dissonanten bzw. imperfekt konsonanten) zu einem ruhenden (perfekt konsonanten) Intervall.

Aufgrund des regulären Ambitus der Stimmen unseres Stimmpaares Cantus – Tenor handelt sich es dabei im einfachsten Fall um die Fortschreitung einer Sexte in die Oktave.



Der melodische Schritt aufwärts in der Oberstimme erhält später den Namen Sopranklausel, der dazugehörige Abwärtsschritt der Unterstimme wird entsprechend Tenorklausel genannt.

Schon sehr früh (vgl. Marchetus de Padua, Musiktheoretiker um 1300) erfahren wir in den Traktaten die wichtige Regel, dass der Schönheit wegen die Sexte vor der Oktave groß sein muss. Damit sind die melodischen Schritte beider Klauseln unterschiedlich groß: eine der Stimmen macht einen Halbton-, die andere einen Ganztonschritt. Wenn diese Schritte wie in unserem Beispiel aufgrund der Position im Tonraum nicht bereits natürlicherweise gegeben sind, muss einer der Töne künstlich erhöht bzw. erniedrigt werden. Dies verstand sich in der Musik des Mittelalters und der Renaissance von selbst und wurde nicht notiert.