Cadentia minima

Unter dem Begriff Cadentia minima, also „kleinste Kadenz“, fasst Muffat alle Kadenzen zusammen, bei denen die Bassstimme nicht die ihr eigentümliche Bassklausel ausführt. Da die stattdessen infrage kommenden Klauseln – die Tenor- und Sopranklausel – beide schrittweise fortschreiten, werden die betreffenden Kadenztypen in der italienischen Theorie cadenza di grado, d.h. „Schrittkadenz“, genannt. Diese Kadenzen sind bereits in der Kadenzlehre der Renaissance aufgrund des Klauseltauschs in der Hierarchie ganz unten angesiedelt.

Liegt die Tenorklausel im Bass, handelt es sich um eine absteigende Kadenz (Cadentia minima descedens/tenorizans), die bereits in der Oktavregel zweimal enthalten ist (Stufengang 2 zu 1 und 6 zu 5). In ihrer einfachsten Form (simplex) ist sie zur fünften Stufe von halbschlüssiger Wirkung.


Als ligata-Kadenz erhält sie etwas stärkere syntaktische Kraft und schließt vor allem als mi-Kadenz häufig intermezzoartige Binnensätze einer barocken Sonate mit dem ihr eigentümlichen Schwebezustand. Verbunden mit der satztechnischen Lizenz der abspringenden Septime (Heterolepsis), bei der die Sopranklausel in eine Altstimme abbiegt und somit in die Quinte über dem Basston der Ultima mündet, entsteht der rezitativ-typische Fragetopos.


Als perfecta-Kadenz ist sie ein im Spätbarock äußerst beliebtes Modulationsmittel. Das folgende Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus einer Triosonate von Arcangelo Corelli.

Sonate a tre, Op. 1 Nr. 3, 1. Grave (1681)

Man beachte, dass in diesem häufig anzutreffenden Fall die Tenorklausel zu einem doppelten Quintfall diminuiert erscheint (fis–h–e). Durch die gewissermaßen „eingeschobene“ Bassklausel erhält die Kadenz zusätzliche Kraft. Das Gerüst ist aber die Tenorklausel der doppia- bzw. perfecta-Kadenz, weshalb sich auch in den oberen beiden Stimmen keine findet.

Die aufsteigende Kadenz mit Sopranklausel im Bass (Cadentia minima ascedens/cantizans) ist in ihrer einfachen Form auch Bestandteil der Oktavregel. Man findet sie besonders häufig halbschlüssig von der erhöhten vierte in die fünfte Stufe führend.

Eine im Spätbarock besonders wichtige Kadenzformel ist der aufsteigende obere Tetrachord (Stufengang 5-6-7-1), der mit einer diskantisierenden Kadenz schließt. Charakteristisch sind der Quartvorhalt auf der Ultima und die gleichzeitig um eine Quinte wie in die Quinte abspringende Tenorklausel. (Man beachte wieder die spiegelverkehrte Analogie zur tenorisierenden mi-Kadenz!)

Die ligata-Version dieser Kadenz hat in der Barockmusik ihren festen Ort als Eröffnungsformel. Corelli verwendet sie zu Beginn eines großen Teils seiner Triosonaten und auch J. S. Bach eröffnet mit diesem Satzmodell sein berühmtes Wohltemperiertes Klavier. Letzterer moduliert zu Beginn seines C-Dur Präludiums nach der diskantisierenden ligata-Kadenz sofort im Anschluss über eine ein klein wenig (um ein Sequenzglied) gedehnte Cadentia minima tenorizans perfecta in die Tonart der Oberquinte, so wie wir es im oberen Beispiel bei Corelli gesehen haben.


(aus: J. S. Bach, Wohltemperiertes Klavier I, Präludium in C, BWV 846)

Die roten Kreise zeigen die Töne der Sopranklauseln, die grünen die der Tenorklauseln. Bach schafft sich übrigens ein Problem, denn die diskantisierende ligata-Kadenz zu Beginn sollte eigentlich auf unbetonter Zeit, d.h. auf dem zweiten Schlag, nach dem gegeben harmonischen Rhythmus also im zweiten Takt beginnen. Da Bach aber jede Takthälfte wiederholt, fällt diese metrische Irregularität nicht auf. Sie führt aber dazu, dass das Präludium ingesamt scheinbar einen Takt zu wenig hat (35 Takte), weshalb der Hamburger Musikdirektor Christian Friedrich Gottlieb Schwencke (1767–1822) das Stück um den berühmten „Schwencke-Takt“ ergänzt hat, der sogar in die Charles Gounods berühmte Méditiation „Ave Maria“ über das Präludium eingegangen ist.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Cadentia minima stabilis. Der den betreffenden Sachverhalt exzellent beschreibende Begriff hat bisher leider keinen Eingang in die musiktheoretische Lehre gefunden. Da die Kadenz über einem liegenden Basston stattfinden, wird sie heutzutage meistens unter des Begriff des Orgelpunkts subsumiert, der aber jegliche harmonische Fortschreitung über liegendem, gleichsam entkoppelten Bass umfasst. Als spezifische satztechnische, kadenzielle Wendung mit den Bezifferungen 4-6 oder 2-4-7, wie Muffat sie angibt, findet man sie allerdings als äußerst wichtiges Satzmodell, welches die Tonart entweder zu Beginn oder zum Schluss eines Formteils stabilisiert und gleichsam bildlich festnagelt. Zum Schluss der Formteile barocker Suitensätze ist sie beinahe unverzichtbar. Folgendes Beispiel zeigt eine Cadentia stabilis zu Beginn eines Suitensatzes von Georg Friedrich Händel.



(aus: Suite in E, HWV 430, II. Allemande)


Folgendes Beispiel von Johann Jacob Froberger zeigt die Möglichkeit, aus einer Cadentia stabilis zu fliehen, was deren eigentliche Bestimmung auf höchst semantische Weise konterkariert – nicht zufällig ist es der Beginn der „Méditation sur ma mort future“, obwohl Froberger diese Technik nicht nur einmal eingesetzt hat.



(aus: Suite in D, FbWV620, I. Allemande, Méditation sur ma mort future)