Cadentia major

Dieser Kadenztypus wird in der modernen Harmonielehre „authentischer Ganzschluss“ genannt, doch die Begriffe sind nicht deckungsgleich. Aus Perspektive der Harmonielehre ist allein eine bestimmte Folge von Akkorden (Dominante – Tonika) maßgebend, wobei je nach Lage der Oberstimme im Ultima-Klang zwischen vollkommen (Oktavlage) und unvollkommen (Terz- oder Quintlage) unterschieden wird. Für die Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts spielt die Stimmführung eine ungleich wichtigere Rolle. Unter einer Kadenz wird also nicht eine Abfolge von Akkorden, sondern ein Klausel-Komplex, verstanden, was der im deutschsprachigen Raum übliche Kadenzbegriff Clausula formalis schön zur Sprache bringt.

Für eine simplex-Kadenz gibt Muffat folgende Beispiele:


Die Tenorklausel führt Muffat immer aufwärts, was natürlich damit zu tun hat, dass es sich um ein Generalbasstraktat handelt und der Continuo-Spieler auch in einer perfekten Kadenz die Terz greifen muss, während im dreistimmigen Kontrapunkt für die stärkste Schlusswirkung alle drei Klauseln in den Grundton geführt werden. Liegt die nach oben führende Tenorklausel in der Oberstimme, so ist der Außenstimmensatz des Ultima-Klangs imperfiziert, was natürlich die Kadenz bedeutend schwächt. Muffat gibt zwei Möglichkeiten für die Bassstufe der Antepenultima einer simplex-Kadenz: 1 und 6.

Bei der ligata-Kadenz ist die Sopranklausel mit der Synkopendissonanz versehen. Der nun doppelt so lange Basston kann in Vierteln diminuiert werden, wobei kontrapunktisch nur eine Möglichkeit in Betracht kommt. Es entstehen im Wesentlichen Untertypen:

Die Vorteile dieser Perspektive liegen auf der Hand: Die enge Verwandschaft des letzteren mit den ersteren beiden Untertypen geht aus den Begriffen der Harmonielehre nicht hervor, denn diese richtet ihr Augenmerk vor allem auf den neu entstandenen Quintsextakkord über dem Basston der vierten Stufe, welcher zudem missverständlich als Akkord mit „Sixte ajouteé“ bezeichnet wird. Die zum Bass entstandene Sexte ist mitnichten „hinzugefügt“. Der komplette Klang entsteht lediglich durch die in Vierteln einzig mögliche Diminution der hinzugefügten Bassklausel.

Eine weitere vor allem für die italienische Musik sehr idiomatische Wendung ist das sogenannte „preparamento alla cadenza“ (Bartolomeo Bismantova, 1677), von Muffat als „aufgeschobene Resolvierung“ bezeichnen. Die Dissonanz der Oberstimmen wird gehalten, während der Bass sich darunter fortbewegt. Muffat gibt folgende Beispiele:


Besonders spannend, was ihre Diminutionsmöglichkeiten betrifft, ist die perfecta-Kadenz. Heutzutage hat sich der Begriff cadenza doppia aus der italienischen Partimento-Praxis etabliert, welcher auch das wesentliche Charakteristikum dieser Kadenz benennt: Die Sopranklausel bewegt sich zweimal vom Leit- in den Grundton, wobei der erste Schritt aufgrund der seiner metrischen Platzierung und des Kontrapunkts unvollkommen wirkt und den darauffolgenden zweiten erfordert.
Die Tenorklausel steigt dabei von der vierten Skalenstufe schrittweise abwärts. Kann die Septime über dem Basston nicht vorbereitet werden, wird sie durch die Quinte ersetzt.


Die Kadenzformel erscheint als Standard bereits im Madrigal des 16. Jahrhunderts, man kann jedoch ohne Übertreibung sagen, dass sie im 17. Jahrhundert zum Satzmodell schlechthin wird – so sehr, dass sie sich ähnlich der mit Septimen versehenen Quintfallsequenz verbraucht, Mitte des 18. Jahrhunderts außer Mode kommt und erst im 19. Jahrhundert eine zweite Blüte erfährt.

Vor allem zwei weitere Faktoren machen diese Kadenz so besonders interessant. Zum einen kann aufgrund ihrer Länge zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus der Kadenz geflohen werden, was von den Komponisten des 17. Jahrhunderts ausgiebig benutzt wird. Zum anderen kann die Kadenz prolongiert, metrisch verzerrt und reichhaltig ausgestaltet werden. Aufgrund ihrer charakteristischen Stimmführung geht ihre Erkennbarkeit selbst in komplexeren Situationen nicht verloren. Das folgende Beispiel, die Schlusskadenz der Allemande aus der Suite FbWV 620 von Johann Jakob Froberger, mag dies verdeutlichen.

Zugrunde liegt dieser Kadenz folgende Bassdiminution:
Zu den besonders häufig anzutreffenden Diminutionsmodellen gehören außerdem folgende:

In ersterem Fall entsteht auf dem zweiten Schlag die charakteristische unvorbereitete, von Muffat frei geschlagen genannte Septime.

Weiterführende Literatur:

Johannes Menke, Die Familie der cadenza doppia, ZGMTH 8/3 (2011)