J. S. Bach – Wohltemperiertes Klavier I – Fuge C-Dur BWV 846
„Um nun eine gute Fuge sowohl in der strengen als freyen Schreibart zu verfertigen, schreibt man in einer Stimme, welche einem beliebig ist, einen männlichen, von allen Zierathen und Manieren befreyten Gedanken aus, der sich aber in die Enge führen lässt“, notiert der berühmte Kontrapunktiker und Lehrer Beethovens, Johann Georg Albrechtsberger, in seiner Gründlichen Anweisung zur Composition1.Enkleidet man das Thema der Eröffnungsfuge aus J. S. Bachs Wohltemperiertem Klavier I seiner „Zierathe und Manieren“, dann erschließt sich schnell, dass es sich einen jener Fugensätze handelt, die „so künstlich ausgedacht werden, daß sie sich auf vierlerley Arten in die Enge führen lassen, nämlich: um einen Streich, um zwey, um drey Streiche, um einen ganzen Tact, um fünf, um sechs Streiche, oder zwey Tacte später“2. Tatsächlich wird sein Bau erst aus der Perspektive der Engführung heraus verständlich: die dem Thema innewohnende Synkope erfährt bei der dichtesten Engführung um einen Schlag (Dux–Comes) ihre naturgemäße Bestimmung als zweifache (!) Synkopendissonanz. Außerdem ergibt sich ein doppelter Kontrapunkt in der Oktave, da der Gerüstsatz außer den regelrecht geführten Dissonanzen nur imperfekte Konsonanzen (Terzen und Sexten) und eine durchgehende verminderte Quinte enthält.
Engführung in verschiedenen Einsatzabständen
Darüber hinaus ermöglicht das Thema aber auch alle übrigen Einsatzabstände, die allesamt die Synkope als Septimenligatur ausweisen: Die wegen der Oktaven vergleichsweise weniger attraktive Engführung in der Unterquinte kann nach zwei Schlägen erfolgen, in der Untersext ist eine Engführung nach drei Schlägen möglich, wobei die im doppelten Kontrapunkt entstehende Quarte durch eine zusätzliche Unterstimme gestützt werden müsste. Aus der Engführung Dux–Comes mit dem Einsatzabstand eines ganzen Takts resultiert ein wiederum charakteristischer Kontrapunkt mit der Auflösung der Synkopendissonanz in die verminderte Quinte. Es lässt sich bereits erahnen, dass Bach von all diesen Möglichkeiten Gebrauch machen wird.
Exposition
Zunächst bleibt die wahre Natur der Synkope jedoch die ganze Exposition über ein wohlgehütetes Geheimnis: Bei allen drei Folgeeinsätzen fungiert sie als der dem Thema zugrunde liegenden Tenorklausel gleichsam eingeschobene und rhythmisch vorgezogene Altklausel.Der Kontrapunkt ist damit determiniert: Zur doppia-Tenorklausel mit dem frei einsetzenden vierten Ton gesellt sich charakteristischerweise die Sopranklausel mit dem durchgehenden Leitton. Die folgende Abbildung zeigt diesen Typus bei Muffat zum Vergleich.
Nun fehlt nur noch eine Gegenstimme zum der Kadenz vorangestellten (und sie gewissermaßen spiegelnden) „Auftakt“, dem aufsteigenden Stufengang vom ersten zum vierten Ton.
Von den hierfür im Contrapunctus simplex zur Verfügung stehenden beiden Möglichkeiten der Parallel- und der Gegenbewegung wählt Bach zunächst die letztere. Beim dritten Stimmeinsatz überträgt Bach ihre Figuration auf die Parallelführung, während er gleichzeitig in der dritten Stimme den ursprünglichen Kontrapunkt im doppelten Kontrapunkt in der Dezime verkehrt — anstelle eines obligaten Kontrapunkts kreiert Bach eine mit diesen einfachen Mitteln und bei gleichzeitiger figurativer Einheit größtmögliche Varietas.
Dass Bach für den vierten Stimmeinsatz der authentischen Bassstimme keine Rückführung im Sinne eines Binnenzwischenspiels benötigt, liegt vor allem an zwei Besonderheiten des Themas: Zum einen fehlt dem fast schulmäßig den Hexachord durchmessenden Thema der Leitton, zum anderen führt das Thema zu Beginn in die Quarte. Von einem solchen Anfang rät Johann Mattheson deswegen ab, da er "immer einen Zweifel [hinterlässt], daß man nicht also bald wissen kann, aus welcher Tonart gespielt oder gesungen werde". Tatsächlich nutzt Bach diesen Umstand produktiv: der vierte Themeneinsatz erfolgt unterhalb einer Kadenz nach C, die allerdings in eine Kadenz nach F ausflieht. Das Modell, das Bach für die Verknüpfung von Comes und Dux verwendet, ist das sogenannte Motivo di cadenza: eine von Angelo Berardi auf diesen Begriff getaufte Verkettung von doppia-Kadenzen, die durch die Erniedrigung des Penultima-Leittons jeweils in die quinttiefere Kadenz fliehen. Bach lässt die Sopranklausel über dem dritten Stimmeinsatz in die Mittelstimme wandern und spart sich damit die stärkste Kadenzformel für das Ende der Exposition auf. Die Ultima der dort an ihrem natürlichen Ort in der Oberstimme sitzenden Sopranklausel erscheint allerdings um eine Achtel verspätet und initiiert bereits einen neuen Themeneinsatz im authentischen Tonraum einer imaginären fünften Stimme — das Ende der Exposition wird auf diese Weise verschleiert.
Motivo di cadenza nach Angelo Berardi3
1 Johann Georg Albrechtsberger, Gründliche Anweisung zur Composition, Leipzig 1790, S. 172.
2 Ebenda.
3 Angelo Berardi, Documenti armonici, Bologna 1687, S. 151.