Beschreiben vs. Erklären

Die Funktionstheorie ist in einer Zeit geboren, in welcher der Analytiker eine unermessliche Distanz zwischen sich selbst und dem zu analysierenden, unter der Hand eines genialen Schöpfers entsprungenen Meisterwerks empfand. Dennoch begann man, statt wie die Autoren des 19. Jahrhunderts über die technischen Hintergründe zu schweigen und stattdessen auf die höheren Sphären der Poesie zu verweisen, sich mit der Machart des Gegenstandes konkreter auseinanderzusetzen. Die zu dieser Zeit noch viel kompliziertere und spekulativere Funktionsanalyse konnte, ähnlich der Schenker‘schen Schichtenlehre, die vernommene Distanz verkörpern, indem sie den Anspruch erhob, durch mehrere Arbeitsschritte die wahre Essenz des Meisterwerks zu enthüllen, die dem direkten Blick ja aufgrund ihrer Genialität und Komplexität verborgen sein musste. Natürlich geht dieses Denken zurück auf die Aufklärung und Johann Philipp Kirnberger demonstriert mit Sicherheit nicht zufällig die „wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie“ an einer Fuge von Johann Sebastian Bach, dessen Genie er als sein selbsternannter, stolzer Schüler gegenüber seinen Zeitgenossen verteidigen musste.
Dass die Wahrheit hinter dem Notentext stehe, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer selbstverständlicher, und insofern konnte auch eine noch so differenzierte Lesart dessen Hintergründe nicht beleuchten. Man musste die Akkorde umkehren, um zum Eigentlichen zu gelangen – und sich nicht selten auch noch die ein oder anderen Töne hinzudenken, die uns der Schöpfer verschwiegen hatte. Dies getan, war man also dessen verschlüsselter Botschaft schon einen kleinen Schritt näher gekommen. Natürlich blieben die viele Situationen, an denen die Methode an ihre Grenzen gerät, rätselhaft. Sie konnten aber ihrerseits, indem sie unerklärbar erschienen, wieder auf die eben doch unüberbrückbare Distanz zum Meisterwerk verweisen (vgl. Ernst Kurth).