Grundakkord vs. Sextakkord

Nicht „Dominante oder Tonika?“ ist die Frage der Generalbasslehre, sondern „Quinte oder Sexte?“. Sie wird aus der Generalbassperspektive wohl erstmals von Francesco Bianciardi (ca. 1572 – 1607) aufgeworfen, ist aber natürlich aus dem Renaissance-Kenner bestens vertraut. Denn Quinte und Sexte repräsentierten die beiden im Note-gegen-Note-Satz zur Verfügung stehenden Intervallklassen (perfekt – imperfekt), also den fundamentalen Qualitätsunterschied zwischen Ziel- und Bewegungsklang. In der Jean-Philippe Rameau folgenden Harmonielehretradition werden diese beiden Klänge, sofern sie als Akkorde erscheinen, einfach zusammengefasst, indem letzterer zur bloßen „Umkehrung“ des ersteren degradiert wird. Natürlich ist damit auf eine Verwandtschaft hingewiesen – beide Klänge besitzen ja schließlich den gleichen Tonvorrat –, die freilich auch in früheren Zeiten niemand hätte übersehen können. Umso bezeichnender ist, dass sie für die Kompositionslehre des Barock kaum eine Rolle spielt. Und selbst Förster weist zwar, wenn er die verschiedene Akkorde zu Beginn systematisch vorstellt, auf deren Verwandtschaft hin, kommt aber, wenn es zur Sache geht, nie darauf zurück.
Die Funktionstheorie ist, wenn man so will, diesem Aspekt noch eher verpflichtet als die römische Stufentheorie, denn sie verfährt inkonsequent: Über der vierten Tonleiterstufe erhalten der perfekte und der imperfekte Klang die gleiche Funktion (S bzw. S6), gemeinsamer Nenner ist also hier wie im Generalbass nicht nach Umkehrung in eine Terzschichtung ermittelter Grund-, sondern Basston.