Der geneigte Leser mag sich fragen, was dies nun wohl alles konkret für Auswirkungen habe und wo denn die Alternativen zu der scheinbar bewährten Methodik des letzten Jahrhunderts eigentlich zu finden seien. Diese Frage lässt sich natürlich nur für jede konkrete Fragestellung einzeln beantworten und einige sich diesen widmende Texte auf dieser Seite sind aus dem Impuls heraus entstanden, mögliche Antworten anzubieten. Trotzdem möchte ich versuchen, ein paar grundlegende Perspektiven zu schildern, die die musikwissenschaftliche Forschung der jüngsten Zeit offengelegt hat.


Harmonik vs. Kontrapunkt

Der vermeintliche Gegensatz von Kontrapunkt und Harmonik, den das frühe 20. Jahrhundert (vgl. etwa Ernst Kurth) erst in aller Schärfte erfunden hat – Antoine Reicha verwendet sogar zu Beginn des 19. Jahrhunderts beide Begriffe noch synonym! – bedarf unbedingt einer Relativierung. Damit einhergehend weitet sich auch der moderne Akkordbegriff – vom primum movens zum „polyphonen Akkord“: Die Einsicht ist gewachsen, dass der geschätzte Albrechtsberger wohl doch so reaktionär nicht war, wenn er noch als Lehrer und Zeitgenosse Beethovens Harmonik als Ergebnis von Intervallschichtung begreift und dies schon allein dadurch visuell demonstriert, dass er in seinen erhaltenen Schriften die Notenbeispiele konsequent in Partiturschrift notiert. Auch seinen Schüler Beethoven lässt er alle Kompositionsversuche in Partiturschrift verfassen und bezieht seine kritischen Anmerkungen auf die von ihm eigenhändig zwischen den einzelnen Systemen mittels Ziffern vermerkten Intervallfortschreitungen.
Genau diese beleuchtet der Generalbass, wenn er die Intervalle, auf den Bass bezogen zusammengefasst, über diesem abbildet; und nur, wer sie nicht zu interpretieren versteht, sieht darin den „Eiseshauch der todten Zahlen“, wie es ein Pädagoge des späten 19. Jahrhunderts auszudrücken vermochte. (Heinrich Josef Vincent mit dem bezeichnenden Titel seines Lehrwerks: „Kein Generalbass mehr! Dafür: Der Geist der Einheit in der musikalischen Progression“ (1860) – als wenn die Musik nicht gerade von der Vielfalt leben würde!)
Nicht weniger zufällig schreibt Emanuel Aloys Förster – der zweite Große unter den Kompositionslehrern in Wien zu Beethovens Zeit und dessen nicht nur enger Freund, sondern gar unmittelbarer Nachbar –, in seinem Vorwort, „daß jeder mittelmäßige Clavierspieler, selbst das schöne Geschlecht nicht ausgenommen, Kenntnisse der Harmonie besitzen müsse, wenn er sich seines Instruments nicht unwürdig machen will.“ Es folgt eine „Anleitung zum Generalbass“ (1805).
Um zu verstehen, wie aus dem Generalbass ein harmonisches Koordinatensystem wird, muss man Förster weiterlesen. Sowohl Förster als auch Albrechtsberger sprechen vom Sitz der Akkorde, und selbiges lehrt die italienische Partimento-Lehre: Jeder Tonleiterstufe wird ein charakteristischer Klang zugeordnet, der mehr oder weniger richtungsweisend ist. Umgekehrt lässt sich jeder Klang in Hinblick auf die in ihm enthaltenen Intervalle analysieren und mit der entsprechenden Kenntnis einer bestimmten Stufe zuordnen (einige bleiben freilich ambivalent und können auf mehreren Stufen zuhause sein – ein perfektes Mittel der Modulation). Und so haben wir kurzerhand die Funktionen wieder eingeführt. Doch geblieben ist eine unbedingt notwendige Differenzierung: nicht jeder Klang ist Dominante oder Tonika, und zudem ist das System grundsätzlich wesentlich offener: es wird nicht versucht, den „Geist der Einheit" zu beweisen. Vielmehr empirisch verläuft der Weg zum Befund, welche Akkorde etwa auf der dritten Tonleiterstufe tatsächlich zur Verfügung stehen. Dass dies zuweilen – besonders häufig etwa in der französischen Musik um 1700 – auch der Tritonusakkord sein kann (2, 4#, 6), erleichtert das Verständnis so mancher Modulation (man braucht sich nur einmal die Rückleitung in die Reprise im ersten Satz von Beethovens Klaviersonate Op. 1 Nr. 1 zu vergegenwärtigen). Es kontextualisiert die Erfahrung, denn der Klang erfährt eine ästhetische und stilistische Einordnung. Und wenn dann einmal plötzlich ein Klang vertikal unleserlich erscheint: etwa, von unten nach oben, e–as–des in Mozarts Jupitersinfonie (T. 269f., nach der Generalpause in der Reprise), vermittelt einem der generalbassgeschulte Blick auf die betreffende Passage, dass es sich eben um eine klassische, wenngleich chromatisierte und mit den zusätzlichen Quartvorhalten aufgemotzte 7-6-Konsekutive handelt, absolut traditionell durch die Quinte zur Sexte eingeführt.
Spätestens an diesem Beispiel dürfte klar geworden sein: der moderne Akkordbegriff steht dem Verständnis von Klangfortschreitung nicht selten im Wege. Und diese Einsicht ist nur ein erster Schritt, um den vermeintlichen Gegensatz von „modalem“ Kontrapunkt und „funktionsharmonischer“, akkordbasierter Tonalität aufzuheben und damit auch dem 17. Jahrhundert den Status eines undefinierbaren Dazwischen zu nehmen.