Narratio

Auch das für das spätere 18. Jahrhundert wichtige Paradigma, mittels des zu Beginn erklingenden „Hauptsatzes“ den „Hauptcharakter“ oder „die in demselben auszudrückende Empfindung in einem faßlichen Bilde oder Abdrucke“ darzustellen, lässt sich bis hierher zurückverfolgen. So zeichnet Corelli mit der ersten Phrase häufig einen präzisen Affekt, woraufhin er im Verlauf des Stücks die verwendeten Ausdrucksmittel weiter entfaltet – ein Konzept, das auch auf den Aufbau der Rede nach der klassischen Rhetorik zurückgeführt werden kann, den die Barockmusik zum Vorbild hat.
Charakteristisch für den Beginn ist das im Taktabstand durch alle drei Stimmen geführte Soggetto, das mit einer Exclamatio, dem Sprung einer kleinen Sexte aufwärts (Saltus duriusculus, mi–fa) anhebt,1 dem sich ein Halbtonschritt abwärts (fa–mi) anschließt. Hierbei handelt es sich um eine klassische Wendung, die bereits Renaissance-Komponisten wie etwa auf sehr prominente Weise Orlando di Lasso in seiner im dritten (phrygisch authentischen) Modus komponierten Motette In me transierunt irae tuae („Dein Zorn ist über mich gekommen“) verwendet haben und ebenso prominent Richard Wagner für den Beginn seiner Oper Tristan und Isolde wieder aufgreifen wird. Bereits der zweite Einsatz bewirkt eine Stimmkreuzung (Transgressio nach Meinrad Spieß), die eine heftige Dissonanz (fa–mi) auslöst. Das Aufeinandertreffen der (nach dem Guidonischen Tonsystem) kontrastierenden Tonqualitäten fa und mi wird so auf dreifache Weise inszeniert. Außer der für den Corelli’schen Stil insgesamt charakteristischen Häufung von Ligaturen (Synkopendissonanzen) trägt insbesondere die Bassstimme mit weiteren Figuren maßgeblich zum gesteigerten Affektausdruck bei: so etwa mit einem Passus duriusculus (chromatischer Gang) in T. 2 und dem darauffolgenden Saltus duriusculus einer verminderten Quinte (T. 2–3: a–dis)2 sowie nicht zuletzt mit der abschließenden Clausula in mi, die den Bassverlauf mit einem „Lamentobass“ um den unteren Tetrachord zu einem plagalen Tonraum vervollständigt.


Die darauffolgende Phrase (A') ist mehr als eine bloße Wiederholung. Der tiefe Soggetto-Einsatz der Bassstimme in T. 7 suggeriert den Einsatz einer vierten Stimme und weitet gleichzeitig den Tonraum: die Bassstimme fällt innerhalb von drei Takten (T. 7–9) um beinahe zwei Oktaven, sodass der Abstand der Außenstimmen auf der Kadenz-Ultima ganze drei Oktaven, der zwischen Bass und zweiter Stimme immerhin eine Oktave plus Dezime beträgt. Auch dies ist ein Ausdrucksmittel, das Christoph Bernhard als Longinqua distantia bezeichnet und das bereits Claudio Monteverdi sehr prominent zu Beginn des berühmten Lamento d’Arianna eingesetzt hat.

1 J. G. Walther schreibt: „Exclamatio ist eine Rhetorische Figur, wenn man etwas beweglich ausruffet; welches in der Music gar füglich durch die aufwerts springende Sextam minorem geschehen kan.“ (J. G. Walther, Musicalisches Lexicon, Leipzig 1732)

2/ Dieser Sprung kann auch als ausgeflohene Bassklausel einer Clausula in mi verstanden werden, die eigentlich eine Quarte abwärts in die Finalis e fallen müsste.