Argumentatio & Conclusio
Längere Phrasen generiert Corelli in der Regel durch ausgedehnte Ligaturenketten. In diesem Satz gibt es davon bezeichnenderweise keine einzige: ihre Mechanik würde seinem Affektgehalt zuwiderlaufen. Stattdessen verwendet Corelli eine andere Technik, um der dritten Phrase zu ihrer beachtliche Länge zu verhelfen: nicht weniger als sechs geflohene Kadenzen folgen hier unmittelbar aufeinander. Wiederum im Dienste des Affektausdrucks steht die expressive und immer unterschiedliche Weise, wie Corelli aus den jeweiligen Kadenzen aussteigt. Corelli verbindet die geflohenen Kadenzen zu einem groß angelegten Intensivierungsprozess, der in der letzten Kadenzflucht kulminiert und sich über die verbleibenden vier Takte abbaut.So könnte man in T. 13 in Analogie den beiden vorausgehenden Takten eine Erniedrigung des Leittons gis1 zu g1 erwarten, was zu einer „Motivo di Cadenza“-Sequenz führen würde. Stattdessen steigert Corelli den Vorgang, indem er den Leitton beibehält und auf die in der Eröffnungsphrase exponierten Figuren Trangressio und Exclamatio bzw. Saltus duriusculus zurückgreift und diese gleichzeitig intensiviert: Die Diskantklausel der zweiten Stimme flieht mit dem überhaus harten Sprung (Saltus duriusculus) einer verminderten Septime aufwärts,1 der wiederum (analog zu T. 2) eine scharfe Dissonanz (mi–fa) zur gekreuzten ersten Stimme auslöst. Die darauffolgende diskantisierende cadenza doppia nach a wird bereits in T. 15 durch den Tritonusakkord verlassen, der eine Kadenz in die Finalis e einleitet. Hiermit könnte Corelli die Phrase schließen, doch auch diese Kadenz wird wiederum durch die um eine kleine Sexte aufwärts abspringende Diskantklausel geflohen, der unmittelbar eine weitere Transgressio der ersten Stimme folgt.
Hier erreicht der Satz seinen Höhepunkt. Der Satzverlauf entpuppt sich gleichsam als Spirale: Mit seiner Klimax gelangt er gleichzeitig zurück zu seinem Ausgangspunkt, der in maximal erhöhtem Erregungszustand wiederkehrt. Die relatio non harmonica der verminderten Quarte (T. 2) wird hervorgekehrt und erscheint als Intensivierung der kleinen Sexte. Mit diesem noch unverbrauchten harten Sprung flieht die Diskantklausel in den Spitzenton c3, der in höchster Lage die grelle mi–fa Dissonanz von T. 2 rekapituliert. Die Bassstimme indessen schreitet vom Tiefton E in das gegenüber T. 2 oktavtiefere A, sodass die Nonendissonanz um zwei Oktaven gespreizt erklingt. Der Oktavsprung und die darauffolgende Achtel-Diminution beleben die Bassstimme zusätzlich.
Statt einer offenen Clausula in mi zur Dominante folgt eine schlusskräftige cadenza doppia in die Finalis, die jedoch ebenfalls mit einer Fülle noch unverbrauchter Ausdrucksmittel aufwartet und dementsprechend ungleich affektgeladener erscheint. Die doppia-Tenorklausel der zweiten Stimme generiert durch die Alteration der Penultima fis2 zu f2 einen Neapolitaner, dem ein (in dieser Zeit noch zurückhaltend gebrauchter) verminderter Septakkord folgt. Der Bass schreitet dabei chromatisch aufwärts (Passus duriusculus), die zweite Stimme über eine verminderte Terz vom f2 ins dis2. Hat die erste Stimme mit dieser erweiterten Kadenz die Exclamatio-Sexte des Anfangs rückwärts durchmessen (c3–e2), so gelangt sie mit der letzten Phrase, gleichsam spiegelsymmetrisch zum Anfang, vom c2 über den mit einem verminderten Septimsprung abwärts erreichten Leitton dis1 in die Finalis e1 zurück.
Wieder einmal fasziniert die überaus sorgfältige Disposition und erschöpfende Behandlung des Materials, die in diesem Satz allerdings ganz im Dienste der Darstellung heftiger Affekte steht. Corelli verwendet alle zur Verfügung stehenden harten Intervalle. Außer chromatischen Schritten finden wir Sprünge einer verminderten Terz, Quarte, Quinte und Septime2 – letztere sogar in beide Richtungen –, die als Steigerungsmittel des anfänglich exponierten kleinen Sextsprungs eingesetzt werden. Die kleine Sexte mi–fa (e–c) ist gleichsam das „Motto“ des Satzes: Sie eröffnet und schließt den Diskurs und markiert an seinem Höhepunkt den Ambitus (E–c3). Formale Architektur und Affektausdruck gehen Hand in Hand.
1 Noch Christoph Bernhard schreibt, der Sprung einer verminderten Septime sei „fast nur in Soliciniis“, und „nur descendendo“ anzutreffen. (Christoph Bernhard, Tractatus compositionis augmentatus, ca. 1660?)
2 Die verminderte Sexte, die mitteltönige „Wolfsquinte“, kommt in der Praxis nicht vor. Generell vermieden werden in diesem Stil außerdem sämtliche ungesanglichen übermäßigen Intervallschritte.
Literatur: Johannes Menke, Was hat Corelli in der None gefunden?, in: Corelli als Modell : Studien zum 300. Todestag von Arcangelo Corelli (1653-1713), hrsg. von Agnese Pavanello (2013)