Modus & Affekt

Doch Corelli ist weit mehr als ein formstrenger Klassizist. Das Grave der Sonata op. 1/X in g ist ein wunderbares Beispiel für den im Affektausdruck gemäßigten (transponierten) ersten, dorisch authentischen Modus, der „von Natur aus nicht heftig, nicht traurig, nicht fröhlich“ (Sweelinck) ist. Ein ganz anderes Klima herrscht im Grave der Sonata VII aus der Sammlung op. 3. Corelli mobilisiert hier eine Fülle von Techniken, die im Dienste der Darstellung heftiger Affekte stehen, wie sie für den phrygischen Modus charakteristisch sind. Der phrygische Modus dient traditionell dem Affekt des Zorns, aber auch des Weinens bzw. der Klage und wird daher insbesondere für Lamentationen sehr häufig verwendet.1
Zwar würde man nach dem Tonartensystem des 17. Jahrhundert eigentlich von einem transponierten a-Modus (oder 3. „Kirchenton“) sprechen. An das darin gewissermaßen aufgehobene Phrygische gemahnen in diesem Satz neben der Finalis e vor allem die zahlreichen phrygischen Kadenzen (Clausulae in mi) sowie die starke Präsenz des phrygischen Rezitationstons, der Sexte c.

Aufbau

Der Satz beinhaltet vier Phrasen sehr unterschiedlicher Länge: Die erste Phrase erhält durch ihre quintversetzte Wiederholung (eine bei Corelli häufig anzutreffende Disposition) besonderes Gewicht. Die dritte Phrase ist fast doppelt so lang (8,5 gegenüber 4,5 Takten) und gefolgt von einem kurzen, kadenziell bekräftigenden Anhang. Den Verhältnissen nach erinnert der Aufbau demnach an den aus der späteren Formenlehre vertrauten „Satz“-Typus (Phrase–Phrasenwiederholung–Entwicklung/Kadenz). Auffällig ist, dass außer der letzten Phrase, die sich einer (Doppel-)Oktave anschließt, alle Phrasen mit einer leeren Oktave beginnen. Nach der Affektenlehre Descartes’ entspricht die Oktave dem Zustand geringster Gemütserregung, sodass die darauffolgenden Affektausdrücke jeweils umso jäher hervorbrechen.


1 Nach Herbst ist der dritte Modus »von Natur Zornig und Saurzapffig«, »Martialisch, Heroisch, Religiosisch und Leymütig« und wird »sonderlich in Gebeten, Trostliedern und Grabgesängen« gebraucht. Den vierten Modus charakterisiert er als »von Natur niderträchtig, demütig und zum Weinen geneigt«. (J. A. Herbst, Musica Poëtica, Nürnberg 1643)