Die verminderte Quarte im 17. Jahrhundert
Die Komponisten des 17. Jahrhunderts haben dieses Intervall ganz besonders geliebt. Der Kontext, indem es für gewöhnlich auftritt, ist eine Variante der cadenza doppia, einer in der Barockmusik omnipräsenten Kadenzformel.Auf der ersten Position der Variante entsteht so ein Klang, der sich aus einer großen Terz und einer kleinen Sexte zusammensetzt. Er gehört zum barocken Standardvokabular, Johann Hermann Schein beispielsweise verwendet ihn fast inflationär: im Eröffnungsstück seiner berühmten Madrigalsammlung Israelisbrünnlein erklingt er im ersten Abschnitt gleich fünf mal.
Worin liegt nun der besondere Reiz dieses Klangs? Hier kommt nun das Stimmungssystem ins Spiel, denn allein satztechnische Argumente sind in diesem Fall nicht hinreichend.
Tatsächlich handelt es sich hierbei nämlich um den in der gewöhnlichen mitteltönigen Stimmung (1/4-Komma) einzig reinen Dreiklang. Grund ist, dass außer den Oktaven, großen Terzen und entsprechend den komplementären kleinen Sexten sämtliche Intervalle temperiert (also verstimmt) sind, vor allem die zu engen Quinten und damit auch sämtliche Mollterzen.
Der besagte Klang entsteht also durch zwei zum Bass intonierte reine Intervalle (reine große Terz 5:4 und reine kleine Sexte 8:5) und die daraus sich als Differenz ergebende verminderte Quarte (8:5) : (5:4) = 32:25 – ein wunderbar expressives Intervall von ca. 427,4 Cent, d.h. fast ein (gleichstufiger) Viertelton höher als die reine Terz mit 386,3 Cent. Dieser Klang ist in der mitteltönigen Stimmung auf einem Tasteninstrument mit zwölf Tasten pro Oktave nur auf vier verschiedenen Positionen verfügbar:
In der gleichstufigen Stimmung hingegen sind beide Intervalle gleichgeschaltet und besitzen jeweils ein irrationales Frequenzverhältnis: Das Vierfache des gleichstufigen Halbtons, der zwölften Wurzel aus 2. Es klingen also statt einer reinen großen Terz und einer „reinen“ verminderten Quarte lediglich zwei verstimmte Terzen von 400 Cent. Folgende Grafik zeigt den Dreiklang mit der verminderten Quarte und den Durdreiklang in der reinen, mitteltönigen und gleichstufigen Stimmung im Vergleich. Grün eingezeichnet sind die reinen, rot die temperierten Frequenzverhältnisse der jeweiligen Intervalle.
Als abstraktes Intervall klingt die verminderte Quarte übrigens wie eine verstimmte Terz, da der dritte (Bass-)Ton erst den Bezugspunkt bilden und das Intervall als Sekundärintervall verständlich machen würde. Im folgenden Klangbeispiel folgen reine große Terz, gleichstufige große Terz und „reine“ verminderte Quarte aufeinander. Man hört sich letztere beiden Intervalle als verstimmte (zu große) Terzen zurecht, da die reine Terz den nächsten Bezugspunkt bildet.
Wird die verminderte Quarte jedoch in einen tonalen Kontext eingebunden, in dem sie satztechnisch Sinn ergibt, ist sie von enorm ausdrucksstarker Wirkung. Im folgenden Beispiel erklingt zunächst die verminderte Quarte abstrakt, dann in einer cadenza doppia, zuletzt im Kontext einer Komposition: dem Anfang der Toccata in d von Johann Jacob Froberger.
mitteltönig | gleichstufig
Dieser erste Teil schließt ebenfalls mit einer cadenza doppia mit verminderter Quarte:
mitteltönig | gleichstufig
Würde man dieses Stück etwa auf einem gleichstufig gestimmten Klavier aufführen, würde man auf ein ganz wesentliches „Gewürz“ verzichten: der Eindruck wäre vergleichbar mit dem einer zu schwach gesalzenen Suppe.