Kirnberger, Bach und das Wohltemperierte Klavier

Umgekehrt erschiene die Musik Bachs möglicherweise mit der bunten Vielfalt mitteltöniger Intervalle „versalzen“ – kompensiert sie doch durch die dichte chromatische Harmonik an Ausdrucksmitteln gerade das, was sie durch die Temperierung opfert. So soll er etwa sein Instrument so gestimmt haben, dass er beim Fantasieren alle Tonarten verwenden und untereinander ohne „Härten in der Modulation“ verbinden konnte und „seine Chromatik sogar […] in den Übergängen so sanft und fließend [war], als wenn er bloß im diatonischen Klanggeschlecht geblieben wäre“1. Eine rein gestimmte bzw. mitteltönige Chromatik, bei der diatonische und chromatische Schritte unterschiedlich groß sind und fast einen Viertelton auseinander liegen, wäre für diese ästhetische Absicht völlig ungeeignet.

Doch wie hat Bach denn nun eigentlich gestimmt? Um’s kurz zu fassen: wir wissen es nicht. Exakt gleichstufig kann es nicht gewesen sein, denn das war damals technisch noch überhaupt nicht möglich. Oft werden die von Kirnberger überlieferten Temperierungen mit Bach in Zusammenhang gebracht, da er sich als Bachs Schüler bezeichnet hat und möglicherweise tatsächlich bei ihm gelernt hatte. Die Stimmungen Kirnbergers sind jedoch stark ungleichstufig! Ein gleichermaßen reines Spielen in allen Tonarten, wie Forkel es Bach bescheinigt hat, ist damit kaum möglich. Selbst bei der ausgeglichensten, heute gebräuchlichsten Stimmung Kirnberger III klingen weit entfernte Tonarten wie As-Dur deutlich unreiner als etwa C-Dur, das sogar eine reine Durterz c–e erhält. Damit entsteht eine starke Tonartencharakteristik, die schon Werckmeister für vorteilhaft erachtete hatte und die für das 18. Jahrhundert eine ausschlaggebende Rolle spielt.

Doch nun zurück zu unserer verminderten Quarte. In Kirnbergers Stimmung bleibt sogar ein Teil ihrer Charakteristik erhalten, wie die folgende Grafik zeigt.


Intervallgrößen bei Kirnberger III in Cent

Auf den vier traditionellen Positionen erklingt jeweils die große Terz noch immer enger als die verminderte Quarte, die als pythagoreische Terz (oder geringfügig tiefer) jeweils sehr weit gestimmt ist.
Im Vergleich zu den reinen Intervallen hat sich der Unterschied jedoch beträchtlich nivelliert, und interessanterweise lässt sich beobachten, dass im gleichen Zuge der Gebrauch dieser Klänge stark zurückgeht. Die Temperierung hat sie gleichsam umgepolt: aus dem sehr charakteristischen und funktional eindeutig bestimmten Klang wird der „vagierende Akkord“, so die Bezeichnung Schönbergs für Klänge wie den übermäßigen Dreiklang, die aufgrund der Äquidistanz ihrer Intervalle in keiner Tonart zuhause sind. Diese ganz neue Qualität machte sich Bach zunutze und verband „die entferntesten [Tonarten] so leicht und natürlich mit einander, wie die nächsten“2, was bei seinen Zeitgenossen offenbar einen großen Eindruck hinterließ. Dass sich Bach hierfür der von Kirnberger formulierten, stark ungleich schwebenden Stimmungssysteme bediente, erscheint zumindest zweifelhaft. Ein Beispiel aus dem Wohltemperierten Klavier mag als weiteres Indiz herhalten.



J. S. Bach, Wohltemperiertes Klavier II, Fuge in E-Dur BWV 878, T. 25–26

Hier befindet sich die im Wohltemperierten Klavier nur noch vergleichsweise selten anzutreffende cadenza doppia mit der verminderten Quarte (bzw. deren Komplementärintervall, der übermäßigen Quinte) auf der in ungleich schwebenden Temperierungen denkbar ungünstigsten Position: als intendierte verminderte Quarte his–e klingt in Kirnbergers Stimmungen die einzig verbleibende rein gestimmte Terz (c–e), während die eigentliche große Terz gis–his mit 407,8 Cent pythagoreisch und damit gegenüber der reinen um das syntonische Komma von immerhin 21,5 Cent zu weit erklingt.



1 Johann Nikolaus Forkel: Über Johann Sebastian Bachs Leben: Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 17.
2 ebenda.