Dramaturgie, Form und Kadenzen

Anhand der Verlaufsskizze wird deutlich, dass Bach die formale Anlage der Fuge sehr sorgfältig disponiert hat. Auf die Exposition folgt eine zweite Durchführung, die unmittelbar mit der dichtesten Engführung im Einsatzabstand einer Viertel beginnt. Zwar spart man Albrechtsberger zufolge die „nächste oder geschwindeste Engführung […] gern auf die letzt“1, wir haben jedoch gesehen, dass das Thema dieser Fuge erst mit dieser Engführung gewissermaßen zu sich selbst kommt. Bach nutzt sie folglich insgesamt ganze fünf Mal.




Verlaufsskizze mit Darstellung der Stimmeinsätze, Engführungen und Kadenzen

Die zweite Durchführung ist durch eine Kadenz in die Quinte genau in der Mitte in 2 x 3,5 Takte zweigeteilt. Der erste Teil exponiert die Engführung in dem authentischen Sopran (auf c2) mit Beantwortung im Tenor und führt damit die sukzessive Weitung des Tonraums der Exposition nach oben hin fort. Der zweite Teil exponiert die Engführung im plagalen Bass (auf G) mit Beantwortung im Alt und führt damit gleichermaßen die Weitung des Tonraums nach unten hin fort. Mit einem der im Anschluss an die Engführung jeweils dritten Einsatz rücken die Mittelstimmen gleichsam nach außen hin nach, wodurch sich insgesamt sechs Einsätze ergeben, bis die Durchführung ziemlich genau in der Mitte des Stücks (Beginn des 14. von insgesamt 27 vollen Takten) mit einer äußerst starken Kadenz nach a-Moll schließt: es handelt sich um eine cadenza doppia mit Auflösung aller Klauseln in die Ultima a.


Kadenz VI

Die dritte Duchführung hebt erneut mit einer Engführung DuxComes im Viertelabstand zunächst zweistimmig an, steigert sich jedoch schnell zu ungeahnter Dichte – aus rhetorischer Perspektive handelt es sich hier um die Confutatio („Auflösung“), die auf die Confirmatio (die starke Kadenz nach a) folgt. Sie äußert sich in zwei Engführungen, an denen jeweils alle vier Stimmen beteiligt sind, weshalb hier auch die insgesamt höchste Einsatzdichte vorliegt. Zwei Themeneinsätze erfolgen außerdem unvollständig. Zwar erfolgen sechs der acht Einsätze auf den Stufen I oder V, die Harmonik in den Takten 16 und 17 verläuft zu den Einsatzstufen allerdings vollkommen quer. Erst der letzte Einsatz im Bass kann seine Stufe tonartlich behaupten, sodass sich ab T. 18 eine Kadenz nach d anbahnt. Diese Kadenz wird jedoch mit zwei verfrühten Stimmeinsätzen spektakulär durchkreuzt.


Kadenz II

Während die Außenstimmen, die sogar figurativ die Confirmatio der Kadenz nach a auf T. 14 reminiszieren, äußert stabil kadenzieren – Tenor- und Bassklausel münden in die Ultima d – beginnen die beiden Mittelstimmen wiederum mit einem Paareinsatz in der dichtesten Engführung bereits vor Abschluss der Kadenz die nächste Durchführung. Der Alteinsatz bringt auf der Ultima die picardische Terz und hebt hiermit die Kadenz in die zweite Stufe (d-Moll) auf.

Mit nur vier Stimmeinsätzen (plus einem Scheineinsatz) nimmt in der vierten Durchführung zwar die Themendichte ab, das Verhältnis von Tonart und Einsatzstufe bleibt aber weiterhin konfus. Keiner der Themeneinsätze kann seine Stufe tonartlich behaupten, was beim letzten Einsatz im Tenor auch gar nicht möglich wäre: Dieser steht auf der siebten Stufe h, über der sich in C-Dur gar kein reiner Dreiklang befindet und in die folglich außerhalb der freien Gattungen nicht kadenziert werden kann2. Erst nach Abschluss des letzten Themeneinsatzes folgt im letzten Takt der Durchführung die Conclusio mit einer großen Kadenz in die Finalis C, die sich dieses Mal – entgegen der ersten am Ende der Exposition – vollständig in die Oktave der Außenstimmen auflöst.

Für die allerletzte Engführung, die über dem Schluss-Orgelpunkt erscheint, hat sich Bach immerhin statt der „nächsten oder geschwindesten“4 eine andere noch ungenutzte Variante aufgespart: Dem Dux folgt im Abstand von zwei Vierteln ein Themeneinsatz in der Unterquinte. Es handelt sich um die anfangs diskutierte und aufgrund der zwischen den Stimmen entstehenden Oktaven als wenig attraktiv eingestufte Möglichkeit. Hier, am Ende des Stücks nach der bereits abgeschlossenen Schlusskadenz, kommen diese Oktaven gerade gelegen – die spezifische Qualität der perfekten Konsonanzen bekräftigt den Eindruck der Abgeschlossenheit. Dass der Stimmeinsatz auf der Unterquinte erst am Ende erfolgt, entspricht übrigens der gängigen Praxis. Die vierte Stufe hat als Schlussfarbe eine lange Tradition: Schon im 16. Jahrhundert ist die Quartfall-Kadenz IV-I als auf die eigentliche Schlusskadenz folgender Appendix üblich. Im Barock ist sie Bestandteil der am Beginn und Ende von Formteilen stehenden Cadentia stabilis, einer Kadenz über einem Orgelpunkt, die Bach hier in erweiterter Form verwendet. Mit dem letzten Stimmeinsatz auf Stufe IV hat Bach übrigens die Runde komplettiert: Auf jeder der sieben Stufen von C-Dur erscheint das Thema mindestens einmal. Dies geschieht völlig unabhängig von der Tonart- bzw. Kadenzfolge, die dem im 18. Jahrhundert üblichen Verlauf folgt: „In den harten Tonarten geschehen die nächsten Ausweichungen bekannter maaßen in die Quinte mit der großen Terz, und in die Sexte mit der kleinen. […] Wenn man in entlegenere Tonarten gehen will, so geschieht es bey den Durtönen in die Secunde und Terz mit dem weichen Dreyklange, und in die Quarte mit dem harten.“5 Da man „in die ordentlichen Tonarten ausweichen muß, ehe man in die außerordentlichen geht“6, ist der von Bach gewählte Kadenzplan I–V–VI–II–I mustergültig.



Coda



1 Ebenda.
2 Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Berlin 1753, S. 331.
3 Ebenda.
4 Albrechtsberger 1790, S. 172.
5 Bach 1753, S. 331.
6 Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge, Leipzig 1806, S. 79.